Organspenden und Utilitarismus
Heute mache ich mir in meiner Sonntagskolumne Sorgen um die Zukunft und zeige auf, was Bismarck uns zur Organspende-Entscheidung beibringen konnte.
Wenn ich mich mit Leuten unterhalte, die jünger sie als ich, mache ich mir immer öfter Sorgen um die Richtung, in die es mit unserem Land geht. Ich meine hierbei vor allem ein mangelndes Verständnis für politische Grundwerte. Akut wurde mir das diese Woche wieder bei den Diskussionen um die Widerspruchslösung zur Organspende vor Augen geführt.
In Gesprächen zu diesem Thema traf ich immer wieder auf sehr utilitaristische Argumente, deren Haupt-Stoßrichtung die folgende ist: Wenn es um das Wohl der Allgemeinheit geht, sollte der Staat weitreichend in das Leben seiner Bürger eingreifen dürfen. Schließlich werde ja niemand gezwungen, seine Organe zu spenden (was ja Sowieso den Begriff “Spende” komplett ad absurdum führen würde, aber das steht auf einem anderen Blatt). Schon mein Versuch, eine Gegenargumentation weg von der Notwendigkeit für mehr Organspende zu leiten, wurde von fast allen Gesprächspartnern im Alter von 20 bis etwa 35 Jahren gar nicht erst angenommen. So weit ich feststellen kann, ist eine Diskussion dieses Themas auf einer abstrakten gesellschaftstheoretischen und geschichtswissenschaftlichen Ebene mit diesen Menschen gar nicht erst möglich.
Meine Argumentation bei diesem Thema sieht etwa so aus: Die Unversehrtheit des eigenen Körpers ist ein im Grundgesetz verbrieftes und unveräußerliches Recht jedes Bürgers. Dieses Recht darf vom Staat nur unter extremsten Bedingungen eingeschränkt werden und nur dann, wenn ähnlich grundlegende Rechte anderer Bürger konkret gefährdet sind. Meiner Interpretation des Grundgesetzes nach, sind solche unveräußerlichen Grundrechte inhärent. Das heißt, sie sind von Natur aus gegeben und erfordern keinen Einwilligung von Seiten des Bürgers, um zu gelten. Ergo benötigt der Staat eine explizite willentliche Einwilligung des Bürgers zum Eingriff in diese Rechte. Er kann bei einem solchen Eingriff – etwa einer Organspende oder einer Impfung – nicht einfach bei Nichtäußerung des Bürgerwillens von einer Zustimmung dieser Person ausgehen. Gerade als Deutsche sollten uns die Gründe für diese Regelung immer bewusst sein. Unser Grundgesetz ist eine direkte Reaktion auf die utilitaristisch gerechtfertigte Barbarei des Dritten Reiches und wir dürfen diesen Umstand unter keinen Bedingungen aus den Augen verlieren – sollten die Argumente auf der anderen Seite noch so verlockend sinnvoll und logisch erscheinen.
Leider will aber niemand mit mir auf dieser Ebene diskutieren – schließlich sterben tausende von Menschen jedes Jahr! Dass der Staat mit dieser Begründung alle möglichen drastischen Einschnitte in das Leben und die Grundrechte seiner Bürger rechtfertigen könnte – von Massenüberwachung bis hin zu Eugenik – scheint mit Blick auf aktuelle Probleme egal zu sein. Bei solchen Überlegungen handelt es sich aber nicht um theoretische Fantasiegebilde, die ich mir ausdenke, um ein Kneipenargument zu gewinnen. Wer über legislative Maßnahmen diskutiert, muss so weit wie möglich in die Zukunft blicken. Vor allem dann, wenn es um Grundrechte geht.
Die Kursichtigkeit vieler meiner Gesprächspartner macht mir Angst. Sie scheinen nicht zu verstehen, wie solche Entscheidungen in der Vergangenheit immer wieder dazu missbraucht wurden, Grundrechte auszuhöhlen. Dabei liegen etwa die Diskussionen zu Auslandseinsätzen der Bundeswehr und zur Vorratsdatenspeicherung noch gar nicht so weit in der Vergangenheit und sind gute Beispiele dafür, wie eine einmalige Entscheidung des Parlamentes in eine Richtung immer wieder als Argumentation zu weiteren fragwürdigen Entscheidungen missbraucht wird. Wollen wir wirklich weitere solche Fakten schaffen, wenn es um ein elementares Grundrecht zu unserem Körper geht?
Dabei bin ich gar nicht dagegen, mehr Menschen zur Organspende zu bewegen. Ich bin schließlich mit vielen Ärzten befreundet und höre regelmäßig Geschichten aus dem Klinikalltag. Ich denke nur nicht, dass der Staat es sich so einfach machen darf. Es muss andere Wege geben, Menschen zur Organspende zu bewegen, ohne ihre Grundrechte zu beschneiden.
Lustigerweise habe ich diese Einstellung ausgerechnet von Bismarck. Obwohl er als Staatsmann eisernen Willens und Schmied des Deutschen Reiches allerhand Bürgern die Grundrechte zerschmettert und immer wieder unpopuläre Gesetze durchgedrückt hat, war er in seiner privaten Korrespondenz immer wieder sehr kritisch gegenüber den eigenen und anderen legislativen Initiativen, die in die Freiheit des deutschen Bürgers eingriffen. Wenn man seine gesammelten Werke liest, sticht immer wieder eine tief in Bismarcks Wesen verwurzelte Überzeugung hervor: Es ist nicht Aufgabe des Staates, den Bürger zu einem besseren Menschen zu machen. Und sie sollte es niemals sein. Die Maxime des Staates, die Lebensumstände seiner Bürger zu verbessern, muss immer im Sinne der Mehrheitsmeinung der Bürger Anwendung finden.
Mit anderen Worten: Es muss Ziel des Staates sein, die Mehrheit der Bürger zu Organspendern aus freiem Willen zu machen und nicht deren Zustimmung anzunehmen, ohne dass sie sich geäußert haben.