Wenn wir wirklich ein geeintes Deutschland wollen, müssen wir die Spaltpilze aus unserem Leben und aus unserer Gesellschaft verbannen.

Eine meiner ersten klaren Kindheitserinnerungen ist eine Zeit von ein paar Wochen, in der meine Eltern jeden Abend stundenlang wie gebannt vor dem Fernseher saßen. Das war bei mir zu Hause eher ungewöhnlich. Normalerweise wurde damals nur die Tagesschau, der Tatort, oder vielleicht mal ein Fußballspiel geguckt. Erst Jahrzehnte später habe ich diese Erinnerung an Fernsehbilder und die damalige Stimmung mit dem historischen Ereignis verknüpft, welches sie auslöste: Der Fall der Berliner Mauer.

Eine andere, sehr frühe, sehr schemenhafte Erinnerung muss aus der Zeit stammen, als meine Eltern mit mir zum ersten und einzigen Mal in die DDR einreisen. Damals haben sich die Grenzer und die Silhouette des Automat Kalaschnikow unauslöschlich in mein noch sehr junges Gehirn eingebrannt.

Zweiunddreißig Jahre nach dem Fall der Mauer erscheint mir Deutschland geteilter denn je. Heute ist unser Land nicht mehr nur nach Ost und West geteilt, sondern nach Links und Rechts, Moralapostel und Querdenker, E-Auto-Fahrer und Umweltsünder, Impfgegner und Bürger erster Klasse …und dabei trifft doch keine dieser Denkschubladen auch nur einen von uns. In Wirklichkeit sind wir alle irgendwie, irgendwo in der Mitte dieser Spaltungen, die dieser Tage unsere Gesellschaft durchlaufen wie Furchen das Eis des Jupitermonds Europa. Damals gab es immerhin nur Ossi und Wessi, BRD und DDR und dazwischen verlief die Mauer und der Todesstreifen. Die Grenze zwischen beiden Lagern hätte klarer nicht sein können. Deutschland war geteilt, aber weil die Teilung so klar und deutlich war, waren die Bestrebungen zur Einheit ebenfalls klar und deutlich. Heutzutage, so scheint mir, haben viele noch gar nicht erkannt, dass das Land schlimmer geteilt ist, als je zuvor. Sie sehen nur ihre Seite. Die andere Seite ist dumm und verblendet – gehört gar nicht dazu.

Aber der größte Unterschied ist wohl, dass die Presse – und andere Organe der öffentlichen Meinungsbildung – dieser Tage ihre Befriedigung (und vor allem ihren Profit) daraus ziehen, die Deutschen geteilt zu lassen. Und sie immer weiter zu teilen. Vor mehr als dreißig Jahren hatte nur die Sowjetregierung und ihre Handlanger in der DDR ein Interesse daran, uns zu spalten. Heute ist dieses Interesse Politikern fast aller Parteien genauso zu eigen, wie Verlagen, Herausgebern, dem öffentlich-rechtlichen, sowie dem privaten Rundfunk und allen möglichen Personen der Privatwirtschaft. Sie alle sagen, sie wollen uns wieder einen und sie alle preisen den heutigen Tag wegen seiner historischen Bedeutung, aber wenn sie handeln, entlarven sie ihre wahren Absichten. Wenn wir wirklich ein geeintes Deutschland wollen, müssen wir diese Spaltpilze aus unserem Leben und aus unserer Gesellschaft verbannen. Die Politiker, die Journalisten, die Propagandisten, die Werbetexter, die uns sagen, dass wir anders und besser sein sollten, als die da drüben. Dass die anderen, die Querdenker, die Impfverweigerer, die im Osten, die die “Nazis” wählen, schlechte sind als wir. Oder dümmer.

Wir sind alle Deutsche. Egal, wo wir geboren wurden, welche Hautfarbe wir haben, oder ob wir uns impfen lassen oder nicht. Wir müssen als Gesellschaft wieder lernen, tolerant gegenüber Andersdenkenden zu werden, anstatt unsere Nachbarn zu verteufeln, nur weil sie Situationen und die viel beschworenen Fakten anders interpretieren als wir. Sonst war die deutsche Teilung von 1949 bis 1990 nur die Vorgeschichte zu einer viel gefährlicheren und bösartigeren Spaltung, die sich nicht durch ein Aufbegehren des Volkeswillens rückgängig machen lassen wird. Weil wir dann nämlich kein Volkeswillen mehr haben werden, wenn unsere Gesellschaft weiterhin auf die Art von innen heraus zersetzt wird, wie es momentan passiert.

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