Stoische Reaktion des Individuums als Antwort auf die emotionalisierte Gesellschaft
Vom Versuch, die aktuelle Situation durch die Anwendung stoischer Philosophie erträglicher zu machen.
Mir ist das gegenwärtig verbreitete Gedankengut der Gesellschaft unseres Landes sehr fremd. Und einiges von dem, was ich dieser Tage in der Presse und auf Twitter und Facebook lese, sowie in zwischenmenschlichen Situationen zu hören bekomme, widert mich geradezu an. Chefredakteure zeigen sich in Editorials und Newslettern unverhohlen schadenfroh darüber, dass “die Luft für Ungeimpfte langsam dünn wird” und dass “das Weihnachts-Shopping für Ungeimpfte gelaufen ist”, um nur zwei Beispiele zu nennen. Menschen, denen ich auf Twitter folge, weil ich sie bisher für moralisch integere Beispiele der Bildungselite unseres Landes hielt, äußern sich derweil geradezu menschenverachtend über die “Idioten” und “Spinner”, die sich erdreisten, sich nicht von Gesellschaft oder Staat zu einer medizinischen Prozedur nötigen zu lassen, die sie für unnötig halten. Derweil stellt das Bundesverfassungsgericht diffuse Ängste der Allgemeinheit, begründet lediglich durch unwissenschaftlich herbeigetestete Inzidenzzahlen, über die verfassungsmäßigen Grundrechte der Bürger.
Hier zeigt sich mir ein gesellschaftlicher Zusammenhang, der in meinem langen – und schlussendlich wenig erfolgreichen – Geschichts- und Politik-Studium nicht ausreichend beleuchtet wurde. Nämlich dass unabhängig von der politischen Ordnung und Regierungsform eines Landes, Gesetze und die durch sie garantierten Freiheitsrechte immer nur so viel Wert haben, wie ihnen durch die Gesamtheit der Gesellschaft zugedacht wird. Die Freiheitsrechte des Anderen zu achten, so lange sie mich nicht tangieren, ist einfach. Zum ersten Mal in der mehr als siebzigjährigen, von Frieden und Wohlstand bestimmten, Geschichte der Bundesrepublik sind wir nun an einen Punkt geraten, an dem wir die Freiheitsrechte des Anderen unter ernstzunehmendem eigenen Risiko hätten bestätigen müssen. Und genau an diesem kritischen Punkt hat unsere Gesellschaft versagt. Wohlgemerkt: Die Gesellschaft hat versagt. Nicht unsere politischen Institutionen und ebenso wenig unsere Verfassung. Unsere politischen Institutionen haben unsere Verfassung gemäß des Willens der Allgemeinheit interpretiert. Oder gemäß dem, was meine Kollegen in der Presse als Willen der Allgemeinheit kolportieren – ob der Großteil der deutschen Bürger wirklich genauso denkt wie die Redakteure in den Newsrooms in Hamburg, Berlin und München sei mal so dahingestellt.
Was bleibt einem dann als Bürger diesen Landes, wenn die eigene Meinung hinsichtlich solch fundamentaler Grundrechtsfragen weder parlamentarisch, noch im politischen Diskurs der Presse oder der Allgemeinheit abgebildet wird? Was bleibt, wenn die eigene Auffassung von Freiheit, Würde und Selbstbestimmtheit des Individuums gegenüber dem Staat und der Mehrheit der Gesellschaft nicht von den Hütern der Verfassung in Karlsruhe gedeckt ist?
Mir selbst half in den vergangenen Wochen in eben jenem Fall das Studium der altgriechischen Philosophie der Stoa. Der Stoiker sieht große Teile der Lebensumstände eines Menschen als unabänderlich und außerhalb seiner Kontrolle an. Etwa auf ds dystopischen Inzidenzwerten begründete Einschränkungen des Privatlebens. Oder dass der selbe Staatsapparat, der nun seit gut anderthalb Jahren kläglich daran scheitert, das Gesundheitssystem auch nur auf die geringste Art auf die Anforderungen der Zeit anzupassen, stattdessen – um eben jenes kaputtgewirtschaftete System zu schonen – das Leben seiner Bürger massiv beeinträchtigt. Und sie nun darüber hinaus auch noch zu einem medizinisch nicht unbedingt notwendigen Eingriff zwingen will.
Der stoische Philosoph akzeptiert diese als unveränderlich gegebenen Umstände und konzentriert sich auf den eigenen Umgang mit ihnen. Dabei geht es nicht darum, die Umwelt zu ignorieren, sondern es ist Ziel dieser Philosophie, den eigenen Charakter so zu formen, dass er trotz – oder gerade wegen – dieser Umstände aufblüht und als positives Beispiel für den Rest der Gesellschaft dienen kann. Für mich heißt das konkret, dass ich politische Entscheidungen von Regierungen und Gerichten und Einschränkungen meines Lebens, die ich nicht ändern kann, mit Gelassenheit ertragen sollte, Und dass ich die mir unverständliche Meinung meiner Presse-Kollegen und der Öffentlichkeit im Internet und im privaten Gespräch zu diesen akzeptiere. Allerdings heißt es nicht, dass ich aufhöre, meine eigene Meinung, wo mir dies möglich ist, gut argumentiert zu verbreiten. Hoffentlich au eine Art und Weise, die überzeugt und nicht abschreckt.
Mir ist bewusst, dass ich momentan noch weit von diesen Zielen entfernt bin. In meinem Verständnis der stoischen Philosophie ist das allerdings auch zu erwarten, da schon klassische Vertreter dieser Denkweise von einem lebenslangen Prozess der Selbstverbesserung ausgehen. Offensichtlich bin ich vom Ziel dieser Reise, dem letztendlichen Erlangen von mehr oder weniger absoluter Weisheit, denkbar weit entfernt. Trotzdem haben mir schon die ersten Schritte auf diesem Weg sehr viel Kraft im persönlichen Umgang mit der bis dato fast aussichtslos erscheinenden Lage gegeben. Die Besinnung auf meinen eigenen Umgang mit der durch nicht änderbare Umstände emotionalisierten Gesellschaft und ihres – durch eine mir fremde Angst gesteuerten – reflexartigen Herdentriebes hilft mir, sowohl die dadurch entstehenden Konsequenzen für mein eigenes Leben besser zu akzeptieren, als auch innerhalb dieser mir fremden Gesellschaft besser zu funktionieren. Die so entstehende Gelassenheit ist erstens einmal gesünder für mich und schärft auch den Blick auf eben jene Gesellschaft und Vorgänge sowie Hintergründe des Handelns der Allgemeinheit. Und das wiederum macht mich zu einem besseren Denker – und letztlich auch zu einem besseren Journalisten.