Sind die Bücher in Gefahr?

Stehen wir vor dem Anbruch eines Zeitalters, in dem ein Großteil der Gesellschaft die Fähigkeit zu lesen verlieren wird?

Was ich momentan so lese…

Digital Total
Dies ist die 234. Ausgabe meiner Dienstags-Kolumne Digital Total, die früher in in der Ostfriesen-Zeitung veröffentlicht wurde. Seit dem 1. Juli 2025 führe ich diese Kolumne hier in meinem Blog weiter.

Man liest ja schon seit Jahren immer wieder, dass mit jeder neuen Generation, die geboren wird, die durchschnittliche Aufmerksamkeitsspanne der Menschen abnimmt. Es scheint aber so als ob wir nun langsam einen kritischen Punkt erreicht haben, an dem wir uns wirklich Gedanken machen sollten, ob das alles so weitergehen kann. Jedenfalls, wenn wir unsere Gesellschaft nicht irgendwann in ein neues Mittelalter stürzen wollen. Man hört schon seit längerem, dass Schüler keine Geduld mehr dazu haben, Bücher zu lesen. Nun aber gibt es die ersten Berichte von Universitätsprofessoren, die das selbe über ihre Studenten sagen.

Ich glaube diese Berichte ohne Weiteres, denn meine eigenen Beobachtungen der Social-Media-Gewohnheiten der Menschen bestätigen diese neue Art des digitalen Analphabetismus. Man muss sich nur mal auf X angucken, wie junge Menschen regelmäßig Elon Musks KI Grok dazu benutzen, um sich die Bedeutung von Tweets zusammenfassen zu lassen. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Menschen bemühen eine KI, um sich 280 Zeichen lange Texte erklären zu lassen. Das zeugt von einer beängstigend kurzen Aufmerksamkeitsspanne und/oder von der kompletten Abwesenheit jeglicher Fähigkeit zu analytischem Denken.

Als jemand, der Bücher liebt — sowohl analog als auch digital — finde ich diesen Trend beängstigend. Verlieren wir als Gesellschaft langsam die Fähigkeit, zu lesen? Damit meine ich nicht, die technische Fähigkeit, Buchstaben, Wörter und Sätze zu entziffern, sondern die literarische Fähigkeit, diese zu verstehen und kritisch zu analysieren. Wenn eine ganze Generation nur noch Textnachrichten, Instagram-Schnipsel und Bildunterschriften lesen kann, aber nicht die Fähigkeit und/oder die Geduld besitzt, einen Roman zu lesen, kann man das dann noch lesen nennen?

Die Theorie des berühmten Historikers Edward Gibbon zum Fall des Römischen Reiches besagt, dass eine Gesellschaft fast unweigerlich untergehen muss, wenn große Teile ihrer Interessenvertreter nicht mehr an die Werte der Gesellschaft glauben. Die Werte unserer Gesellschaft verwahren wir in Büchern: dem Grundgesetz, dem Kapital, in Shakespeares Theaterstücken, in Orwells Ninteen Eighty-Four und in Tennysons Gedichten. In Bismarcks Gedanken und Erinnerungen, in Solschenizyns Archipel Gulag, in Anne Franks Tagebuch, in Clausewitz Vom Kriege und in den Werken von Vonnegut, Goethe, Hemingway und Seneca. Was passiert wenn die, die später einmal diese Gesellschaft anführen und weiterentwickeln sollen, diese Werte nicht mehr aufnehmen können? Nicht nur, weil sie die Fähigkeit verloren haben, diese im Ganzen zu konsumieren, sondern auch, weil damit ein Verlust der Fähigkeit, diese Werke im Ganzen zu analysieren, einhergeht.

Eine Gesellschaft, die keine Bücher mehr liest, will ich mir gar nicht ausmalen. Und leben möchte ich in einer solchen Dystopie schon gar nicht.