Überraschend
Die CDU ist gegen Totalüberwachung? Es geschehen noch Zeichen und Wunder!

St. Zensursula (Foto: Christophe Petit Tesson/EPA, bearbeitet)
Obwohl ich jetzt bald zwanzig Jahre lang im Nachrichtengeschäft bin1, überraschen mich ab und zu dann doch noch mal Nachrichten. Aktuell ist es Jens Spahn — jemand, für den ich seit seiner Pandemie-Politik nichts als Abscheu übrig habe2 — dessen Absage an das Chat-Control-Gesetz der EU mich verwundert. Normalerweise sind solche Leute, vor allem bei der CDU, doch immer ganz vorne dabei, wenn es darum geht, die Grundrechte einzuschränken. Es muss eigentlich nur das Wort “Kinderporno” fallen und diese Menschen wollen gleich alle Bürger Ketten legen.
Gut, Spahn ist jetzt nicht grundsätzlich dagegen, die Bevölkerung auszuspionieren. Nur “anlasslos” soll das nicht möglich sein. Man will also nicht alle Chats aller Menschen vorsorglich abhören. Sondern nur die von den ganz bösen. Ein bisschen Lauschangriff muss schon sein, da bleibt man sich bei der CDU treu. Aber ich mein, immerhin. Immerhin ist dieses unsagbar drakonische Chat-Control-Gesetz erst mal gestoppt. Wenigstens für eine Weile.
Klar, es gab massiven Widerstand gegen dieses Gesetz aus der Zivilgesellschaft, aber dass die Regierung darauf hört, überrascht mich trotzdem. Vielleicht überrascht mich aber auch gerade dieser Widerstand. Klar, er ist unglaublich wichtig. Aber ich hatte ehrlich gesagt einfach auch nicht mehr damit gerechnet, dass so viele Menschen verstehen, warum dieses Gesetz schlecht ist. Oder sich, ehrlich gesagt, überhaupt noch für Privatsphäre interessieren. So etwas erwartet man heute einfach nicht mehr. Vielleicht tue ich damit aber den jüngeren Generationen Unrecht. Vielleicht sehen wir gerade eine Wende in der öffentlichen Meinung. Vielleicht glauben Zoomer und Alphas auch einfach nicht an den Unsinn, den viel zu viele meiner Millennial-Generationsgenossen einfach so geschluckt haben: Dass Privatsphäre tot ist. Dass es keinen Sinn macht, sich gegen die großen Konzerne wie Google, Meta und Apple zu wehren. Dass wir unser Schicksal einfach akzeptieren müssen.
Wenn dem so wäre, dann wäre das richtig gut. Ein solches Umdenken ist genau das, was wir jetzt gerade brauchen. In einer Welt, die mehr und mehr von digitaler Technik abhängt ist Privatsphäre wichtiger denn je. Denn sie schützt jetzt nicht mehr nur das, was wir früher in Briefen oder am Telefon mit unseren Arbeitgebern, Geschäftspartnern oder weit weg lebenden Verwandten besprochen haben. Chat Control bedroht unsere intimsten Gespräche mit Freunden, Ehepartnern, Geliebten und Anwälten. Es betrifft unsere innigsten politischen Gedanken — wen wir wählen und warum, im Privaten geäußerte Kritik am Staat und seinen Organen — für was wir Geld ausgeben und wie es mit unserer Gesundheit bestellt ist.
Gesetze wie dieses gibt es, weil der Staat Kontrolle3 über Bereiche unseres Lebens erlangen will, über die er nie Kontrolle hatte — und auch niemals haben sollte. Wir müssen uns mit aller Kraft gegen solche Eingriffe wehren. Jedenfalls, wenn wir gerne in einer Domokratie leben wollen.
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“Geschäft” ist vielleicht der falsche Ausdruck. Ich zähle hier meine unbezahlten Podcasts mit. Journalismus als Beruf mache ich erst seit dreizehn Jahren. ↩︎
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Böse Zungen behaupten, ich hätte den Boxsack, den ich mir in der Pandemie gekauft habe, wegen ihm “Jens” genannt. ↩︎
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Der Name dieses Gesetzes ist, für die EU eher untypisch, Programm: Gesprächskontrolle ↩︎
