Antizyklisch
In meiner 100. Sonntagskolumne beschäftige ich mich heute mit dem antizyklischen Lebenswandel, der einem als Freiberufler offen steht.
Da ist sie also nun: Meine hundertste Sonntagskolumne. Da ich mittlerweile seit drei Jahren für mich selber arbeite, hätte ich eigentlich schon mindestens fünfzig Kolumnen mehr geschafft haben sollen. Jedenfalls wenn ich jeden Sonntag eine geschrieben hätte. Aber wie ihr ja wahrscheinlich gemerkt habt, wenn ihr regelmäßig dieses Blog lest, ist in diesen drei Jahren auch immer mal wieder viel dazwischengekommen. Trotzdem bin ich stolz, jetzt endlich bei Kolumne Nummer 100 angekommen zu sein. Nach einem Jahr und 52 Kolumnen für die Ostfriesen-Zeitung ist das nun die zweite kolumnistische Leistung innerhalb kurzer Zeit, die ich feiern kann.
Ich habe dieses Ereignis mal zum Anlass genommen, über die ersten drei Jahre und 99 Ausgaben Ausgefuchst drüber zu schauen und sie ein bisschen für mich selbst Revue passieren zu lassen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich nicht annähernd so oft über mein Freelancer-Dasein schreibe, wie ich das eigentlich am Anfang vorhatte. Klar, ich schreibe eigentlich fast immer über Dinge, die in meinem Leben so passiert sind – und oft hat das ja auch mit meinem Job zu tun – aber ich schreibe nicht so oft über spezifische Freelancer-Erfahrungen, wie ich das eigentlich wollte, als ich mit dieser Kolumne angefangen habe. Also ist mein neues Ziel, genau das zu ändern. Angefangen mit Ausgabe 100 dieser Kolumne. Darum nun zum eigentlichen Thema des Textes:
Eine Eigenschaft meines Lebens als Freiberufler ist mir erst ziemlich spät, also irgendwann im vergangenen Jahr, aufgefallen. Nämlich die Tatsache, dass ich ziemlich antizyklisch lebe, seit ich mir meine Zeit einteilen kann. Ich schlafe, wenn die meisten Menschen zur Arbeit gehen; ich frühstücke, wenn die meisten Menschen zu Mittag essen; und ich jogge, wenn die meisten Menschen beim Abendessen sitzen. Wenn viele Menschen abends ins Bett gehen, arbeite ich meist noch. Oft bis tief in die Nacht hinein.
Antizyklisch zu leben, hat viele Vorteile. Man kann einkaufen, wenn die Geschäfte recht leer sind, in den Urlaub fahren, wenn alle arbeiten müssen und sowieso sein ganzes Leben eher danach ausrichten, was man selbst wann am liebsten macht. Man muss sich ja nach keinen Regeln eines Arbeitgebers richten, die macht man sich schlicht und ergreifend einfach selbst.
Aber der größte Nachteil dabei ist, dass die meisten anderen Menschen einfach nicht verstehen, was man da macht. Sie verstehen nicht, wenn man morgens noch schläft, weil man bis vier Uhr nachts gearbeitet hat. Auftraggeber verstehen überhaupt eher wenig, wann man arbeitet. Mal ganz zu schweigen davon, dass sie die flexiblen Arbeitszeiten des Freelancers zu nutzen, um Lücken in der eigenen Besetzung zu füllen. Man würde ja eigentlich meinen, dass Redaktionen sich freuen, wenn Freie mitten in der Nacht (wenn in den USA der Nachrichten-Tag erst so richtig beginnt) oder am Wochenende fürs gleiche Geld arbeiten. Aber dem ist anscheinend nicht so. Die Kollegen in ihren eingefahrenen Bürojobs können anscheinend nicht soweit über den Tellerrand schauen. Und sie verstehen demnach auch nicht, wenn man sagt, dass man die bestellte Geschichte über Nacht abliefert, statt sie vormittags des nächsten Tages zu schreiben.
Das bringt das antizyklische Leben wohl mit sich. Alle anderen sind so im Zyklus gefangen, dass die Welt außerhalb der gewohnten Muster für sie überhaupt nicht existiert. Man fühlt sich ein bisschen so wie in einer Star-Trek-Folge, in der jemand in einen phasenverschobenen Zustand versetzt wird: Man existiert ein bisschen außerhalb des gewohnten Universums aller anderen. Glücklicherweise habe ich eine Frau, die extrem verständnisvoll ist und damit Leben kann, dass ich einfach mein Ding mache. Ansonsten hätte ich wahrscheinlich obendrauf noch Eheprobleme. Als Forscherin ist sie gezwungenermaßen allerdings auch oft antizyklisch unterwegs. Eigentlich also kein Wunder.
Diese ganze Erfahrung ist es auch, die mich immer laut auflachen lässt, wenn Leute dieser Tage behaupten, die Arbeitswelt wäre heutzutage ach so flexibel mit Home Office und total relaxten Vorgesetzten und so. Hauptsache man arbeitet, egal wann und wo bla bla blubb. Alles Quatsch. Leute kapieren nicht mal, wenn man lieber von 11 bis 19 Uhr arbeitet statt von 8 bis 16 Uhr. Ganz zu schweigen von wirklich flexiblen Arbeitszeiten. Oder so verrückten Ideen wie Mittwochs frei machen statt Sonntags. Einfach, weil man es kann. Flexibilität fängt in den Köpfen an und kopfmäßig sind die Deutschen wirklich kaum flexibel, vor allem, wenn es um Arbeit geht. Jedenfalls sagen mir das drei Jahre Freelancer-Erfahrung im Umgang mit anderen Firmen.
Aber gut, wenn alle antizyklisch unterwegs wären, gäbe es ja gar keinen Zyklus mehr, dem ich trotzen könnte. Also ergibt das eigentlich auch wieder Sinn und ich sollte wahrscheinlich froh sein, dass die meisten Menschen aus ihrem geistigen Hamsterrad nicht rauskommen.