Zynische Clickbait-Artikel als Qualitäts-Content verkaufen und dann so tun, als wäre man schon immer am Thema dran gewesen. Das ist gerade das Gebot der Stunde bei den Leitmedien.

Mir geht echt immer mehr auf die Eier, wie scheinheilig die Welt geworden ist, in der wir leben. Und allen vorweg immer meine Kollegen aus der Presse… Auf einmal interessieren sich alle für die Ukraine. Noch vor zwei Monaten hat das Land niemanden auch nur im Entferntesten gejuckt. Da ist seit acht Jahren Krieg, und das einzige Mal, wo das überhaupt ernsthaft in den Leitmedien besprochen wurde, war, als die Russen 2014 einmarschiert sind und dann noch mal, als Malaysia Airlines Flug 17 abgeschossen wurde. Danach war Funkstille.

Jahrzehntelang tauchte die Ukraine in der Presse nur auf, wenn es um Korruption, Kreditkartenbetrug, Cybercrime, illegal gedrehte Pornos, Menschenhandel oder Auftragsmorde ging. Jetzt wird plötzlich darüber berichtet, wie die “boomende Wirtschaft in der Ukraine” durch den Angriff der Russen in Mitleidenschaft gezogen wird. Die ganzen IT-Spezialisten, die da unten – auch für deutsche Firmen – arbeiten, sind auf einmal im Fokus von Nachrichtenmeldungen und Artikeln. Super. Nur leider hat das vor dem 24. Februar 2022 niemanden auch nur ein Fitzelchen interessiert.

Dabei finde ich es gar nicht mal so schlimm, dass meine Kollegen solche Dinge nur recherchieren, wenn auf einmal jemand feststellt, dass Krieg ist. Die meisten Journalisten werden halt schlecht bezahlt und sind hoffnungslos überarbeitet. Und ihre Vorgesetzten interessieren sich mehr für die schnelle Mark und Wachstum als für das, was wirklich berichtenswert ist. Aber was mir wirklich kolossal auf den Sack geht ist, wenn sie dann endlich ihren Arsch hochbewegt haben, um etwas herauszufinden, dann tun die Kollegen bei der Tagesschau, beim Spiegel bei der Zeit und der SZ immer so, als hätten sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. Da wird dann auf einmal Oberlehrerhaft über Dinge referiert, vor denen man vierundzwanzig Stunden früher selber noch keine Ahnung hatte.

Es ist ja gut und schön, wenn man plötzlich über die Ukraine schreibt, weil es Leute interessiert. Dann aber bitte nicht so, als hätte es diese Berichterstattung schon immer gegeben. Und bitte nicht in einem Tonfall, der in jedem zweiten Satz die eigene Überlegenheit des Verfassers betont. Wen wollt ihr denn verarschen? Glaubt ihr allen Ernstes uns wäre nicht aufgefallen, dass ihr diesen Krieg acht Jahre lang verpennt habt? Oder dass euch die Menschen und die Wirtschaft in der Ukraine bis Anfang März diesen Jahres völlig egal waren? Glaubt ihr, eure Leser verstehen nicht, dass ihr das nur macht, weil alles mit dem Keyword Ukraine gerade wie Sau geklickt wird?

Das Schlimmste ist aber wohl, dass meine Kollegen wahrscheinlich Recht haben. Die Mehrheit von deren Lesern und Zuschauern verstehen das wahrscheinlich wirklich nicht. Wie auch. Sie sind ja selbst genauso scheinheilig und reden sich jetzt wahrscheinlich ein, die Ukraine hätte sie schon immer interessiert.

Berichterstattung über diesen Krieg und seine Folgen für die unschuldige Zivilbevölkerung ist extrem wichtig. Aber bitte stellt dabei auch den richtigen Kontext her. Und lasst das scheinheilige Getue und das oberlehrerhafte Geseier weg. Damit könnt ihr mir eure Clickbait-Artikel auch nicht als journalistischen Qualitäts-Content verkaufen.

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