In Erinnerung an meine Oma, einen der liebenswürdigsten und stärksten Menschen, den ich je gekannt habe.

In Memoriam Henny Kluge (geb. Kuchenbecker)
* 1921 — ✝ 2022

Meine Oma war einer der freundlichsten Menschen, den ich je gekannt habe. Sie missgönnte niemandem irgendetwas, und selbst über Menschen, die sie nicht mochte oder die ihr Schaden zugefügt hatten, hatte sie immer etwas Gutes zu sagen. Das Schlimmste, was sie jemals jemandem antat, war, ihn einfach zu ignorieren, und so etwas tat sie nur aus sehr guten Gründen.

Obwohl sie in einer extrem voreingenommenen Zeit aufwuchs und mit den schrecklichen Vorurteilen, die in ihrer Jugend in der Gesellschaft vorherrschten, konfrontiert wurde, hatte sie, bis ich in ihr Leben trat, diese hässlichen Überbleibsel ihrer Vergangenheit überwunden. Sie hatte ein riesiges Herz und öffnete es jedem, der sie und die ihren auch nur halbwegs anständig und mit Respekt behandelte. Unabhängig von deren Alter, Nationalität, Aussehen oder sonstigen Lebensentscheidungen. Als ich die Liebe meines Lebens fand, adoptierte meine Oma sie sofort und liebte das Mädchen, das später meine Frau werden sollte, genauso wie sie mich liebte. Oma sagte immer, solange wir uns lieben, werde sie glücklich sein.

Meine Oma überlebte Typhus und Krebs. Sie überlebte die Flucht vor der herannahenden Roten Armee durch ganz Deutschland im Winter, unter den schlimmsten Bedingungen, die man sich vorstellen kann. Und sie versorgte sich selbst zu Hause, im Alter von über hundert Jahren, bis wenige Wochen vor ihrem Tod. Sie war gleichzeitig die kleinste und zerbrechlichste, aber auch die stärkste Person, die ich je kannte. Sie war unglaublich tapfer und hatte einen eisernen Willen. Aber im Gegensatz zu den meisten Menschen setzte sie ihn nur ein, um Gutes zu tun. Erst ganz am Ende, als ihr Augenlicht, ihre Beine und schließlich auch ihre Lunge versagten, gab sie – mit Recht – auf. Vorher niemals.

Als sie jung war, fuhr meine Oma mit dem Motorrad. Später fuhr sie mit dem Fahrrad, auch noch, als sie weit über neunzig Jahre alt war. Als ich ein Kind war, hat sie jeden Tag auf mich aufgepasst, während meine Eltern arbeiten waren. Sie kochte für mich, sorgte dafür, dass ich meine Hausaufgaben machte und schaute dann gerne mit mir Star Trek und MacGyver. Wir machten zusammen Urlaub in den Niederlanden, und als ich ein Jahr in Australien war, vermisste sie mich so sehr, dass sie ihren Sohn beauftragte, ihr einen Computer einzurichten, und meine Mutter bat, ihr beizubringen, wie man E-Mails schreibt. Mit achtzig Jahren brachte sie sich selbst bei, wie man einen Computer bedient, nur damit sie mir E-Mails schreiben konnte! Ich habe ihr natürlich jeden Tag in Australien von der Schule aus geschrieben.

Als mein Opa starb, war sie über siebzig. Anstatt sich aufzugeben, zog sie in ihre eigene Wohnung und genoss das Leben. Sie hat fast fünfzig Jahre lang gearbeitet. Als Krankenschwester, auf einem Bauernhof, als Telefonistin, als Zeitungsausträgerin und als Postangestellte. Im Ruhestand ging sie auf Reisen und besuchte die schönsten Gegenden Deutschlands, vor allem die Badeorte am Meer. Dann beschloss sie, sich ehrenamtlich in einem Altenheim zu engagieren. In ihren Achtzigern und Neunzigern kümmerte sie sich dann um Menschen, die manchmal zwanzig Jahre jünger als sie waren. Sie spielte mit ihnen Brettspiele, machte mit ihnen Spaziergänge und unterhielt sich stundenlang mit ihnen. In ihrem Altersheim wurde sie zu einer Legende: die achtundneunzigjährige, ehrenamtliche Mitarbeiterin, die sich um Demenzkranke kümmert. Niemand konnte es glauben. Aber es war wahr. Meine Oma war ein einzigartiger Mensch.

Sie ließ sich nicht von ihrem Alter aufhalten. Das Einzige, was sie davon abhalten konnte, sich um andere zu kümmern, war, als die ganze Gesellschaft aus Angst vor einem Virus zusammenbrach. Oma hatte übrigens keine Angst. Auch wenn sie gefährdeter war als alle anderen. Aber Angst zu haben kam einfach nicht in Frage. Wenn ich etwas von meiner Oma gelernt habe, dann ist es, keine Angst zu haben und sich auch den schrecklichen Dingen im Leben mit Mut zu stellen. Wenn sie all diese schlimmen Dinge in ihrem Leben überleben konnte und immer noch so zuversichtlich war, dann würde ich das auch schaffen.

Als ich jung war, habe ich Oma fast jeden Tag gesehen. Auch als ich nach London, Hannover und Hamburg gezogen bin, versuchte ich, sie so oft wie möglich zu besuchen. Als eine Gesellschaft in Panik sie dazu verdammte, ganz allein zu Hause zu bleiben, bemühte ich mich bewusst, mindestens einmal pro Woche für sie da zu sein. Ich wollte Zeit mit ihr verbringen, Brettspiele spielen, mit ihr reden und ihr zuhören. Ich bin sehr froh, dass ich das geschafft habe und wir uns in den letzten Jahren so oft sahen.

Das letzte Mal sah ich meine Oma drei Tage vor ihrem Tod. Ich saß neben ihrem Lieblingssessel und sprach mit ihr. Ich wusste, dass es das letzte Mal sein könnte. Wie sich herausstellte, war es das auch. Als ich mich von ihr verabschiedete, sagte ich ihr Lebewohl für immer. Ich war mit meinem Motorrad auf der Autobahn unterwegs, auf dem Rückweg von einer Reise nach Kopenhagen, als sie starb. Sie liebte ihr eigenes Motorrad, also war das auf eine traurige Weise irgendwie passend. Als wir das letzte Mal zusammen waren, sagte sie, sie habe das Gefühl, dass sie mir nie genug Liebe gezeigt habe. Ich sagte ihr, das sei lächerlich. Sie liebte mich jede einzelne Minute and jedem einzelnen Tag meines Lebens, und sie zeigte es mir jedes Mal, wenn wir uns sahen. Bis zu diesem allerletzten Tag. Ich sagte ihr, dass ich sie liebe und dass sie die beste Oma ist, die man sich wünschen kann. Und das war wahr.

Ich vermisse meine Oma. Ich vermisse sie unglaublich. Aber ich bin weniger traurig über ihren Tod, als ich dachte. Vielleicht wird der Schmerz mit der Zeit kommen. Aber sie hatte ein sehr langes Leben. Und ganz am Ende, als ihr Körper sie im Stich ließ und sie sich eingestehen musste, dass sie nicht mehr konnte – und nicht mehr wollte – starb sie auf ihre eigene Weise: mit Stolz und mit Würde. Bei sich zu Hause. Sie hat nicht unnötig gelitten. Trotz all des Bösen, das sie erlebt, und all des Schmerzes, den sie erfahren hat, hatte sie ein sehr schönes Leben. Das erfüllteste Leben, das ich mir vorstellen kann. Nicht wegen anderen Menschen, sondern weil sie es selbst so wollte. Sie füllte ihr Leben mit Freude, die sie sich selbst erarbeitet hat. Und sie schenkte so vielen anderen Menschen ebenfalls Freude. Was könnte man sich mehr von einem Leben wünschen?

Ich glaube, sie hätte nicht gewollt, dass wir traurig sind. Sie wollte immer, dass alle Menschen glücklich sind. Diesen Wunsch werde ich in Ehren halten. Ich werde sie so in Erinnerung behalten, wie sie war: voller Leben und so unglaublich liebenswert. Und ich werde mich an ihre Stärke und an das Glück erinnern, welches sie mir neununddreißig Jahre lang gebracht hat.

Meine Oma konnte kein Englisch. Aber ich glaube, wenn sie es verstanden hätte, hätte ihr ein Gedicht meines Lieblingsdichters gefallen. Die Traurigkeit, aber auch die Hoffnung, mit der er der schrecklichen Endgültigkeit des Todes entgegensieht. Deshalb möchte ich zum Abschluss Crossing the Bar von Alfred Lord Tennyson zitieren. Lasst uns Henny Kluge und ihrer hundert Jahre auf dieser Erde gedenken. Wo auch immer sie jetzt ist, die Menschen, die sie mit ihrer Liebenswürdigkeit und Freude berührt hat, werden sie nie vergessen. Erinnern wir uns an sie mit Liebe und lachendem Herzen und nicht mit Kummer.

Sunset and evening star,
And one clear call for me!
And may there be no moaning of the bar,
When I put out to sea,

But such a tide as moving seems asleep,
Too full for sound and foam,
When that which drew from out the boundless deep
Turns again home.

Twilight and evening bell,
And after that the dark!
And may there be no sadness of farewell,
When I embark;

For tho' from out our bourne of Time and Place
The flood may bear me far,
I hope to see my Pilot face to face
When I have crost the bar.