Telepolis löscht alle früheren Texte, Multipolar Magazin

Telepolis, eines der ältesten Online-Magazine Deutschlands, informierte am Freitag (6. Dezember) darüber, alle Artikel, die vor dem Jahr 2021 veröffentlicht wurden, vollständig gelöscht zu haben. In jenem Jahr hatte der aktuelle Chefredakteur Harald Neuber die Leitung des Magazins von seinem Vorgänger Florian Rötzer übernommen, der Telepolis 1996 gegründet hatte. Zur Begründung für die massenhafte Löschung, der schätzungsweise mehr als 50.000 Artikel zum Opfer fallen, schreibt Neuber, man habe die Texte „zunächst aus dem Archiv genommen“, da man „für deren Qualität nicht pauschal garantieren“ könne. „Keinesfalls“ handle es sich um „ein Misstrauensvotum gegen frühere Autoren und damalige Beiträge heutiger Autoren“. „Wir mussten aber einsehen“, so der Chefredakteur, „dass es keine realistische Möglichkeit gibt, die enorme Menge von Artikeln aus gut 25 Jahren hinreichend zu prüfen.“

Im Widerspruch dazu heißt es im Text der Erklärung, die Redaktion werde nun „die alten Inhalte systematisch und so schnell wie möglich sichten und – soweit sie noch einen Mehrwert bieten – nach unseren Qualitätskriterien bewerten und überarbeiten.“ Eine Nachfrage von Multipolar, was mit „bewerten und überarbeiten“ gemeint sei und ob die Texte nun umgeschrieben werden sollten, ließ Neuber zunächst unbeantwortet – ebenso die Frage, woraus abgeleitet werde, dass ein Chefredakteur die vor vielen Jahren publizierten Artikel, die seine Vorgänger zu verantworten haben, prüfen müsse.

Die Kritik an dem in der deutschen Medienlandschaft bislang beispiellosen Vorgehen ist scharf. Telepolis-Gründer Florian Rötzer erklärte, Telepolis betreibe: „stalinistische Cancel Culture“ und lösche „fast 25 Jahre Geschichte unter anderem des Internets, um sich dem Mainstream unkritisch und marktkonform anzupassen“. Das Magazin wolle „Geschichte korrigieren oder verfälschen“, kritisierte Rötzer. Unter seiner Leitung hatte Telepolis seinerzeit mehrere Auszeichnungen erhalten, darunter den Grimme Online Award.

Telepolis-Autorin Sabine Schiffer hält die aktuelle Löschung für „den Anfang vom Ende des Projekts“ und bemängelt fehlendes Rückgrat. Die Redaktionsleitung gehe „den geduckten Weg“ und setze „fatale Signale“. Vieles, was auf dem Portal „einst kontrovers war (und deshalb besonders gut und aufwändig belegt werden musste)“ habe sich „inzwischen bewahrheitet“. Doch „die Dokumentation der eigenen frühen und mutigen Leistung ist nun weg“, so Schiffer, die als Professorin an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft in Frankfurt am Main lehrt. Telepolis-Autor Philipp von Becker, dessen neuere Texte weiterhin aufrufbar sind, die älteren aber ebenso vollständig gelöscht, spricht von einer „Unverschämtheit und Dreistigkeit, das als ‚Qualitätsoffensive‘ zu verkaufen“. Neuber „zerstöre“ Telepolis. Marcus Klöckner, ein weiterer langjähriger Autor des Magazins, erklärte gegenüber Multipolar, Telepolis habe „über zwei Jahrzehnte im positivsten Sinne ein Stück deutsche Mediengeschichte geschrieben“, nun jedoch sei der „Untergang eines Magazins“ zu erleben, „dessen Wurzeln abgeschlagen werden“.

Unter dem aktuellen Beitrag, der über die Löschung der Artikel informiert, ist, anders als bei Telepolis üblich, das Leserforum abgeschaltet worden. Kommentare sind nicht möglich. Auf dem X-Kanal des Portals, wo kommentiert werden kann, wurde der Beitrag nicht ausgespielt.

Telepolis gehörte von Anfang an zum Heise-Verlag. Einer der Gründe, warum ich immer Stolz war, für Heise zu arbeiten — und warum ich auch als freier Journalist für Heise schreibe — war immer, dass Heise sehr auf Meinungspluralität bedacht war. Als ich Ende 2018 bei Heise aufgehört habe, zeichnete sich zwar schon ein starker Trend in eine entgegengesetzte Richtung ab — was mich unter anderem dazu bewegt hatte, die Redaktion zu verlassen — aber bisher hat sich Heise immer noch viel besser gegen den Trend der Selbst-Gleichschaltung und Propagandisierung der Presse zur Wehr gesetzt, als so ziemlich jede andere Medienorganisation in Deutschland. Und vor allem war man immer selbsbewusst genug, Fehler nicht zu verstecken, sondern transparent zu korrigieren. Zu meiner Zeit bei heise online waren tote Links zu alten Artikeln ein absolutes No-Go.

Klar, Telepolis war schon immer das schwarze Schaf und bei vielen in der Redaktion nicht sehr beliebt, hatte aber immer die Rückendeckung der Chefredaktion von heise online. Das scheint sich jetzt geändert zu haben und, als jemand, der immer noch einige Freunde hat, die in diversen Heise-Redaktionen arbeiten, macht es mich sehr traurig, diese Entwicklung zu sehen. Ich würde nicht so weit gehen, den Vorgang als “stalinistische Cancel Culture” zu beschreiben, aber seriöser Journalismus sieht anders aus. Die Erklärung für den Vorgang, die Neuber in seinem Beitrag angibt, scheint mir jedenfalls nicht sehr schlüssig:

In einigen dieser alten Beiträge ließen sich mögliche Urheberrechtsverletzungen nicht ausschließen. Auch wenn der Umgang mit urheberrechtlich geschütztem Material in der Frühzeit des Internets lockerer war, sind Verlag und Redaktion unabhängig vom Alter dieses Contents auch heute noch von Abmahnungen bedroht. Zudem waren Bilder nie barrierefrei und damit nicht für alle Leser zugänglich. Das waren auch Gründe, das Archiv aus der Zeit vor 2021 zunächst offline zu nehmen.

Wenn das Problem die Bilder in den Beiträgen sind, hätte man einfach alle Bilder entfernen und die Texte weiter online stehen lassen können. Telepolis ist schließlich fast ausschließlich ein Text-Medium. Dass diese alternative Lösung bei heise online technisch möglich ist, weiß ich, da ich zu meiner Zeit bei Besprechungen in der Redation anwesend war, in der ein sehr ähnliches Problem auf anderen Teilen von heise online diskutiert wurde. Diese fadenscheinige Begründung wird wohl auch einer der Auslöser dafür sein, das Forum abzuschalten. Das Heise-Forum ist bekannt dafür, solche Artikel auf seine eigene, aufmüpfige Art sehr kritisch zu kommentieren und da sind Leute unterwegs, die diese Begründung sofort als Bullshit identifiziert hätten.

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