Mir schnürt keine Virusinfektion die Lunge zu, sondern die Gedanken, die mir kommen, wenn ich den Herdentrieb meiner Mitmenschen beobachte.

Eins der ersten Dinge, die man im Geschichtsstudium lernt, ist, dass eine angemessene Betrachtung der Vergangenheit nur dann gelingt, wenn man sich der Lebensumstände der Menschen bewusst ist, die zu jener Zeit gelebt haben. Das bedeutet, dass man den Entscheidungen geschichtlicher Personen keine zeitgenössische Sichtweise der Dinge überstülpen darf, wenn man ihre Beweggründe verstehen will. Mir leuchtete das sofort ein und ich habe seitdem immer versucht, beim Studium einer bestimmten Geschichtsepoche so viel wie möglich über die Lebensumstände einfacher Menschen zu erfahren. Gleiches gilt natürlich auch für den Kontext, in dem bekannte Persönlichkeiten ihre Entscheidungen trafen.

Man lernt im Geschichtsstudium allerdings auch schnell, wo dieser Ansatz an seine Grenzen stößt. Bei mir war das in etlichen Semestern der Fall, in denen ich mich mit der Geschichte des Nationalsozialismus und Deutschlands zur Zeit des Zweiten Weltkriegs befasst habe. Ehrlich gesagt habe ich nie wirklich verstanden, wie es zur Machtübernahme durch Hitler und die Umstände, die sie begünstigten, kommen konnte. Ich habe durchaus intellektuell verstanden, was damals passiert ist, aber ich habe eben die Menschen damals nicht verstanden. Ich habe nicht verstanden, wie sie die Katastrophe nicht haben kommen sehen. Bis jetzt.

Als Kind des Friedens und einer Wohlstandsrepublik habe ich einfach nie erlebt, was Angst mit den Menschen macht. Bis die Coronavirus-Krise des Jahres 2020 kam, die von der Bundeskanzlerin nun offiziell zur schlimmsten Katastrophe in der Geschichte der Bundesrepublik erklärt wurde. Seitdem weiß ich, dass Menschen ihre Grundrechte freiwillig abgeben, wenn ihnen der Staat nur verspricht, dass alles ein bisschen besser wird. Aus Angst. Und es ist ja im Moment in der Regel nicht einmal die Angst ums eigene Leben. Es ist in den meisten Fällen die Angst, dass sich eventuell ein Angehöriger anstecken könnte und dass dann, eventuell, nicht genug Ärzte, Pfleger oder Ressourcen zur Verfügung stehen, diese Person umfassend zu versorgen. Aber schon diese Angst reicht aus, eine 70-jährige Tradition der Freiheit freiwillig aufzugeben.

Das ist dann wohl die viel beschworene deutsche Obrigkeitshörigkeit. Wieder so etwas, was ich intellektuell verstanden glaubte, aber dessen wahre Ausmaße ich nie wirklich am eigenen Leib erfahren habe. Bis jetzt.

Die Presse sagt die Politiker sagen die Wissenschaftler sagen es ist am besten, wenn man uns das soziale Leben verbietet? Oh, OK. Klar. Bin ich dafür… Ach, ihr wollt uns mit Handy-Daten tracken? Zu unser aller Sicherheit? OK, klar!

Diese ganze Situation strotzt nur so vor krasser preußischer Vorurteile, das kann man sich kaum ausdenken. Nur, dass die Bayern mit gutem Beispiel voran marschieren.

Ganz ähnlich muss sich so manch ein Beobachter in der Weimarer Republik auch gefühlt haben, der seinen Mitbürgern dabei zusah, wie diese aus Angst um die eigene Existenz die politische Seele des Landes verkauften. Nun denke ich natürlich nicht, dass eine Ausgangssperre dazu führen wird, dass die Bundesrepublik zu einer Diktatur wird. Aber die Tatsache, dass sich nicht der geringste Widerstand gegen eine solch drastische Maßnahme regt, ist beängstigend.

Ich frage mich, was Geschichtsstudenten in hundert Jahren denken werden, wenn sie aufs Jahr 2020 zurückblicken. Werden sie denken, dass wir unsere Prinzipien verkauft und den schleichenden Niedergang unserer Grundrechte besiegelt haben, um einen Virus zu stoppen, das in den nächsten fünf Jahren trotz aller sozialen Distanzierungsversuche trotzdem die komplette Bevölkerung infiziert hat?

Die erste deutsche Demokratie ist wegen einer Wirtschaftskrise und der daraus resultierenden Angst, die eine schleichende Zersetzung der gesellschaftlichen Werte ausgelöst hat, gefallen. Eine Wirtschaftskrise steht uns schon jetzt ziemlich unausweichlich bevor und die Angst ist bereits da. Ich hoffe inständig, dass ich nicht der Einzige bin, der hier eine Gefahr für den zweiten demokratischen Staat auf deutschem Boden sieht.


Aufmacherbild: Bundesarchiv, Bild 102-13744: “Menschenmenge vor dem Reichstag bei der letzten Verfassungsfeier, 11. August 1932”