Anstatt sich über Querdenkerdemos zu echauffieren, sollten Journalisten lieber mal der Regierung für eine katastrophale Gesundheitspolitik in der Pandemie auf den Zahn fühlen.

Moin, moin! Willkommen zu einer weiteren arg verspäteten Sonntagskolumne hier bei fab.industries. Eigentlich wollte ich die Kolumne diese Woche mal wieder sausen lassen, da ich momentan mal wieder einen extrem vollen Kalender habe. Nun sitze ich aber hier und habe überraschend etwas Zeit, da ein Webinar, das ich eigentlich heute morgen moderiert hätte, verschoben wurde. Da ich jetzt etwas Luft in meinem Terminplan habe, dachte ich mir, dann kann ich auch gleich diese Kolumne schreiben. Vor allem, da mir beim Warten auf das Webinar (als ich noch nicht wusste, dass es ausfällt) gleich ein Thema unter gekommen ist, was mir jetzt auf der Seele brennt.

Wie ihr ja vielleicht wisst, schreibe ich eine wöchentliche Digitalkolumne für die Ostfriesen-Zeitung. Als Teil meiner due diligence für diese Kolumne habe ich den Newsletter Moin Ostfriesland aus der Chefredaktion der OZ abonniert. Man will ja wissen, womit sich die Zeitung, für die man einmal in der Woche schreibt, sonst noch so beschäftigt. Ganz abgesehen davon mag ich Ostfriesland und die Ostfriesen und bin gerne auf dem Laufenden, was im Norden so passiert.

In der heutigen Ausgabe dieses Newsletters schreibt Chefredakteur Joachim Braun:

Fast täglich bekommen wir Mails von Lesern, die in etwa so anfangen: „Wir sind weder Coronaleugner, keine Aluhutträger und nicht rechts. Im Gegenteil; wir hatten fast vier Jahre einen afghanischen Flüchtling in 2016 bei uns aufgenommen und ihm einiges mitgeben können.“ Und dann erklären, warum sie empört sind über unsere Berichterstattung, die sie als einseitig empfinden. Vor allem, wenn es um Corona-Demos geht. Das ändert aber nichts daran, dass man mitverantwortlich ist, wenn man Seite an Seite mit den Feinden der Demokratie protestiert.

Ich hatte mir überlegt, darauf in einer privaten E-Mail zu antworten. Ich denke aber, als verantwortungsvoller Journalist obliegt es mir (im Sinne meiner Leser), meinem Unmut über diese Aussage öffentlich Luft zu verschaffen. Ich finde nämlich, man kann das oben Zitierte so nicht stehen lassen. Es folgt meine Antwort, hiermit öffentlich für alle einsehbar.

Ich brauche hoffentlich eingangs nicht zu erklären, dass ich kein Querdenkenker, Coronaleugner oder Aluhut-Träger bin. Ganz im Gegenteil. Ich habe hier im Blog über dieses Virus geschrieben, als es noch 2019-nCov hieß und die ARD noch fröhlich von einem DNA-(sic!)-Virus fabulierte. Und den Begriff Aluhut haben wir in der Linux-Community schon jahrzehntelang benutzt, bevor meine Kollegen bei Tageszeitungen und Magazinen den jemals gehört haben. Trotzdem finde ich, dass ein großer Teil der Berichterstattung über Corona-Demos von einem gefährlichen Unwissen unseres demokratischen Systems zeugt, der einem gewissenhaften Journalisten nicht zu Gesicht steht. Ich habe über diese Doppelmoral, der anscheinend ein beträchtlicher Teil des deutschen Bildungsbürgertums verfallen ist, schon mal öfter in dieser Kolumne geschrieben. Es scheint allerdings so, als muss man bestimmte Sachen einfach immer wieder niederschreiben.

Eigentlich sollte jeder, der in Deutschland eine weiterführende Schule besucht hat, gelernt haben, dass friedliche Demonstrationen ein unabdingbares Instrument der politischen Selbstbestimmung eines jeden Bürgers der Bundesrepublik sind. Weil die Verfasser des Grundgesetzes wussten, dass es zwar eine noble Idee ist, den Bürgern ein solches Recht zuzusprechen, der Staat – und wie sich jetzt herausstellt auch große Teile der Zivilgesellschaft – diese Demonstrationen im konkreten Fall allerdings als sehr unangenehm wahrnehmen und im Zweifel auch verbieten wollen würden, haben sie sich Art. 8 GG ausgedacht. Nun geht es mir nicht darum, dass bestimmte Demos nicht genehmigt oder eingeschränkt werden. Das ist laut dieses Artikels ja durchaus legitim.

Allerdings sind Aussagen wie “das ändert aber nichts daran, dass man mitverantwortlich ist, wenn man Seite an Seite mit den Feinden der Demokratie protestiert” mit diesem Artikel nicht vereinbar. Es ist politisch unverantwortlich, alle Mitglieder einer Demonstration (so sie denn genehmigt wurde und friedlich stattfindet) über einen Kamm zu scheren. Das ist, vor allem von Seiten der Presse, auch ein neues Phänomen. Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie es war, als Kind am Maifeiertag mit meinen Eltern, die vor knapp dreißig Jahren überzeugte Sozialdemokraten waren, mitzulaufen. Da waren auch immer irgendwo ein paar autonome Spinner dabei. Wahrscheinlich auch wirkliche “Feinde der Demokratie”. Nur halt eher von links als von rechts. Aber damals hat komischerweise kaum ein Journalist, weder in der Lokalpresse noch in Zeit oder Spiegel, die Legitimität der friedlichen Demonstranten in Frage gestellt. Auch heute passiert das nicht. Obwohl Leute, die da mit demonstrieren, seit Jahrzehnten regelmäßig die Schanze in Hamburg und große Teile von Kreuzberg verwüsten. Für die wäre man ja dann auch mitverantwortlich, wenn man dieser irrsinnigen Argumentation folgt.

Zu entscheiden, ob die Spinner, die da gerade auf solchen Demos mitlaufen oder sie organisieren “Feinde der Demokratie” sind, will ich mir, im Gegensatz zu Joachim Braun, nicht zumuten. Das muss im Zweifel das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Ich habe allerdings bei Demonstrationen am 1. Mai mehr Rufe nach Revolution, d.h. nach dem gewaltsamen Umsturz unseres demokratischen Systems, gehört, als auf Corona-Demos.

Was ich allerdings weiß ist, dass wir als mündige Bürger auch idiotische und unbequeme Blödsinnsmeinungen wie “der Virus existiert nicht und Bill Gates will uns alle chippen” tolerieren müssen. Auch auf der Straße. Und wir dürfen Menschen, die aus vernünftigen Gründen gegen die Pandemie-Politik der Bundesregierung protestieren, nicht mit Spinnern und Neonazis in einen Topf rühren. Schon gar nicht als verantwortungsvolle Journalisten. Weil wir ansonsten allen Bürgern ihr Recht nach Art. 8 GG auf friedliche Demonstrationen nehmen. Und dieses Recht ist in den Perioden zwischen den Wahlen die einzige Möglichkeit eines Bürgers, seinen politischen Willen gegenüber der Regierung auszudrücken.

Und das tut gerade Not. Mehr denn je. Trotz eines einschneidenden Richtungswechsels durch den Übergang von einer großen Koalition zur Ampel macht unsere Regierung weiter, wie zuvor. Uns wird – mittlerweile seit Jahren – erklärt, wir müssten Masken tragen, unser Sozial- und Arbeitsleben einschränken und Bürger zu medizinischen Eingriffen zwingen, um das Gesundheitssystem zu schützen. Und in dieser ganzen Zeit – mittlerweile seit zwei ganzen Jahren – hat diese Regierung rein gar nichts gemacht, um die Situation des Gesundheitssystems zu verbessern – ganz im Gegenteil! Ein Bundesgesundheitsminister, der noch im Februar 2020 behauptet hatte, man müsse “Mut zu Kürzungen” haben, Arzt und Pflegestellen abbauen und sogar Krankenhäuser schließen, war danach noch fast zwei Jahre lang der gefeierte Pandemie-Manager der Regierung. Und tatsächlich wurden noch im vergangenen Jahr, in Mitten der Pandemie-Panik, in nicht wenigen Kliniken Intensivbetten und Pflegestellen abgebaut. Abgebaut. Das muss man sich mal vorstellen. Warum haben da nicht reihenweise Chefredakteure in ihren Newslettern den Rücktritt von Jens Spahn gefordert?

Die Bundesregierung hat rein gar nichts gemacht, um den Einfluss der Pandemie auf das Gesundheitssystem abzufedern. Und sie tut auch heute noch nichts. Stattdessen wird die Verantwortung auf die Bürger abgewälzt, deren Privat- und Arbeitsleben eingeschränkt wird und denen durch staatlich-finanzierte Propaganda auf jeglichen öffentlichen und privaten Werbeflächen eingebläut wird, man müsse “zusammenhalten” und “Team-Player” sein. In Talkshows ist nicht selten von einer “Bürgerpflicht” die Rede. Impfen lassen, Maske tragen, zu Hause verrotten. Frag mal meine 100-jährige Oma , wie es sich anfühlt, seit zwei Jahren nicht unter Menschen gewesen zu sein.

Und was macht unsere Regierung stattdessen? Werden Intensiv-Pfleger und Ärzte besser bezahlt? Gibt es spezielle Ausbildungsprogramme, schnell die fehlenden Spezial-Pflegekräfte zu ersetzen? Wird Schulabgängern mit satten Prämien und Traumgehältern der Einstieg ins Gesundheitssystem schmackhaft gemacht? Ist es überhaupt mal ernsthaft in Erwägung gezogen worden, die unsinnige Profit-Orientierung des, aus einem mir nicht erfindlichen Grund zwanghaft kapitalistischen, Gesundheitssystems zugunsten einer gemeinnützigen (vielleicht sogar staatlichen) Struktur zu reformieren? Warum eigentlich nicht? Weil man lieber Millionen in Smartphone-Apps steckt, deren Wirkungsweise von Anfang an umstritten war (was sich später auch als berechtigt herausstellte ) oder die unsicher und stümpferhaft programmiert sind, anstatt zielorientiert und beherzt die eigentlichen Probleme anzupacken.

Wenn dieses Versagen von mittlerweile zwei grundunterschiedlichen Regierungen es nicht nötig macht, auf die Straße zu gehen, was denn dann? Wenn ich nicht Journalist wäre und mir dadurch nicht bessere Möglichkeiten zur Verfügung stehen würden, gegen diesen Missstand zu protestieren – wie etwa dieses Blog hier – dann wäre ich auch auf der Straße und würde meinem Unmut dort Gehör verschaffen.

Vielleicht sollten sich meine Journalistenkollegen mal mit Ärzten und Menschen im Pflegeberuf unterhalten, statt jeden Tag reflexartig auf die bösen Querdenker einzukloppen. Dann würden sie vielleicht auch merken, was im Gesundheitssystem wirklich abgeht und könnten über den wirklichen Skandal in der Pandemie berichten. Gerade diese Woche habe ich mal wieder von einem Arzt gehört, der tagelang nicht zu Hause bei seiner Familie war, weil seine Frau SARS-CoV-2-positiv getestet wurde. “Ich hab keine Zeit, krank zu sein”, sagte er mir. Arbeit geht vor, irgendwer muss sie ja machen. Eine Bekannte, die in einem Krankenhaus in der Pflege ist, betreut strotz Schwangerschaft doppelt so viele Patienten wie normal, weil dem Krankenhaus momentan die Pflegekräfte wegrennen. “Die Ratten verlassen das sinkende Schiff”, fasste sie lakonisch zusammen. Der Job ist scheiße und schlecht bezahlt und keiner will ihn machen. Deswegen suchen Pfleger sich bessere Jobs. Das war schon vor der vielbeschworenen Pandemie dabei, uns das Genick zu brechen, mittlerweile ist es eine ausgewachsene Katastrophe. Und die Politik macht rein gar nichts dagegen. Außer die Verantwortung auf ihre Wähler abzuschieben.

Es gab mal eine Zeit, da sahen es Journalisten als ihre Aufgabe an, die Verfehlungen der Mächtigen aufzudecken. Speaking truth to power nennt man das im Englischen. Im Sinne ihrer Leser gegen die, die von oben deren Leben schlechter machen. Heute kommt es mir eher so vor, als sehen Journalisten es als ihre Aufgabe an, schulmeisterlich ihre Leser im Sinne der Regierenden zu erziehen. Das ist schon schlimm genug. Aber noch schlimmer ist es, wenn man dabei selber das System nicht versteht, das man da zwanghaft zu erklären versucht.

  Du hast etwas hinzuzufügen? Kommentiere diesen Beitrag im Forum.