Die menschliche Wahrnehmung ist schon ein merkwürdiger Prozess. Und sie wird viel zu oft überschätzt.

Mir ist in letzter Zeit immer wieder bei den unterschiedlichsten Menschen etwas aufgefallen, was ganz viele von ihnen gemeinsam zu haben scheinen. Etwas, das ich selbst eigentlich schon lange wusste und versuche, bei mir selbst wenn möglichst zu vermeiden. Der Eindruck hat sich aber durch Unterhaltungen gerade immer wieder vertieft. Eine Tatsache, die auch für mein berufliches Leben ziemlich wichtig ist. Ich rede von einem Effekt, der dadurch bedingt ist, wie die menschliche Wahrnehmung funktioniert – vor allem im Bezug auf andere Menschen.

Die meisten Menschen, die etwas wahrnehmen, sagen wir zum Beispiel das Verhalten einer Person in einem Gespräch, gehen nämlich davon aus, dass ihre Wahrnehmung davon der Realität entspricht und absolut objektiv richtig ist. Sie sprechen der anderen Person dann deren Sichtweise der Situation oft komplett ab. Das tun sogar sehr gebildete Menschen und das wundert mich doch dann immer wieder. Ich kann doch unmöglich der einzige sein, der sich noch daran erinnern kann, wie Platons Höhlengleichnis in der Schule besprochen wurde. Schon an diesem Punkt muss man als heranwachsender Mensch doch anfangen, zu verstehen, dass das, was in unserem Bewusstsein ankommt – also das Ergebnis des Prozesses, mit dem unser Hirn unsere Sinneseindrücke verarbeitet – nicht hundertprozentig dem entspricht, was draußen in der Welt auch wirklich vor sich geht. Von Erinnerungsverklärung und geistigen Abkürzungen wie Vorurteilen und so weiter mal ganz zu schweigen.

Und wenn man sich dann noch mit Geschichte im Studium beschäftigt, lernt man, wie krass die Auswirkungen dieses uns fast gänzlich unbekannten Prozesses sind. Man lernt das, weil man sonst die Aussagen von Zeitzeugen nicht richtig einschätzen kann. Jedenfalls wurde mir im Geschichtsstudium deutlich vor Augen geführt, wie wenig vertrauenswürdig die Aussagen von Augenzeugen sein können – selbst wenn diese komplett davon überzeugt sind, nach bestem Wissen und Gewissen die Wahrheit zu sagen. Und das bezieht sich natürlich auch auf uns selbst im täglichen Leben.

Man sollte der Wahrnehmung von anderen also nicht ohne Bestätigung aus weiteren Quellen trauen, wenn man als Historiker – oder als Journalist – seinen Job vernünftig machen will. Polizisten und Richter haben übrigens das selbe Problem. Aber das heißt im Umkehrschluss ja auch, dass man auch der eigenen Wahrnehmung nicht unbedingt trauen kann und immer skeptisch gegenüber sich selbst sein muss. Und gerade das ist etwas, was sehr viele Menschen – und leider auch viele Journalisten – so gar nicht verinnerlicht zu haben scheinen.

Nun ist mir das bei den meisten Menschen im Alltag eigentlich egal. Vor allem, wenn keine Geschichte, an der ich arbeite, von ihrer Aussage abhängt. Bei Freunden finde ich ein solches Verhalten dann allerdings meist enttäuschend und traurig. Aber wenn ich eine solche simplistische Herangehensweise an die eigene Wahrnehmung bei anderen Journalisten feststelle, zerstört das meist komplett meinen Glauben in deren Arbeit.

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